Das Land der Dichter und Denker – oder: Warum ich kein Patriot mehr bin

von Joshua Salewski

Mit letzter Kraft hält der Todgeweihte es dem Angehörigen entgegen. Ein Armband, das die letzte Bitte in großen Lettern artikuliert: „Lösch meinen Browser-Verlauf!“ Wer sich im gebär- und erektionsfähigen Alter befindet, dem dürfte dieses Internet-Meme bekannt sein. Von allen Memes ist es vielleicht das „Evidenzbasierteste“. Jenes, das sich am meisten mit der Lebensrealität der (Post-)Millennials deckt. Ich weiß das aus rechter Hand.

„Mach mal was von Blink-182“, rief mir Kumpel Tim zu, als wir seinen Geburtstag feierten. Damals, als man sich noch guten Gewissens mit russischem Wodka ins Cheblirium schießen konnte. Das muss 2013 oder 14 gewesen sein, aber so genau weiß ich das nicht mehr – wer sich erinnert, war nicht dabei! Tims Wunsch war mir Befehl, ich gab im Browser also den Buchstaben B wie „Blink“ ein. Und potzblitz, mein lieber Herr Gesangsverein: Die Auto-Complete-Funktion ließ sich nicht zweimal bitten! Es gab offensichtlich noch andere „Bands“ mit B, die Tim gefielen. Klassiker wie „Big Breasted Stepmom“, „Big Creamp…“. Ja, das war Musik in meiner Hose!

„Ey Leute, guckt mal“, setzte ich feierlich zur Kunde an, so wie es als treuer Freund nun mal meine Art ist. Ich fand es unfair, wenn der Connaisseur seine Schätze nicht mit dem Pöbel teilte. Doch ehe ich seine Freundin und die anderen Gäste über Tims exquisiten Filmgeschmack aufklären konnte …

„Weg da, du spinnst wohl!“, insistierte er und schubste mich – einer gewissen homoerotischen Dynamik nicht unverdächtig – in die Küche. Womit die Situation vorerst deeskaliert war. „Vorerst“, da er noch etwa zwei Kästen Bier und mehrere Mixgetränke zu seinem Party-Inventar zählte.

„Fappi-Leaks“, ein Malheur, das mir so schnell nicht passieren würde. Da es zum neuen Bond-007 nie gereicht hat (nicht nur vom Aussehen!), ich mich aber gerne in die Aura des Klandestin-Unergründlichen hülle, benutze ich natürlich seit Jahren einen Browser, der beim Neustart jegliche Spuren verwischt. Im Bett trage ich überdies Camouflage-Boxers, um nicht erkannt zu werden. Und doch gibt es da etwas, das ich nie negieren könnte, eine Sünde verewigt auf Facebook-Servern, und zwar: meinen unerbittlichen Einsatz fürs Vaterland in den Jahren vor 2020. Ich teilte „Compact“- und AfD-Beiträge, was das Zeug hält, gab meinen Senf dazu, beseelt vom narzisstischen Impetus, dass ausgerechnet meine Zeilen dabei hülfen, das deutsche Exil-Kalifat wieder in einen „Law and Order“-Staat nach Strauß’schem Vorbild zu verwandeln. Freilich nicht, ohne dabei den gängigen Topos des „Lands der Dichter und Denker“ zu reproduzieren. Doch wo sind sie hin, diese Dichter und Denker? Ich will sie nicht finden, wenn ich mit der Straßenbahn fahre …

Sherlock Holmina und die Bundesnotbremse

„Pass uff, jetzt kütt et“, sagt die Frau zu ihrer Freundin, erwartungsfroh wie das Kind am Weihnachtsabend, und spitzt die Lauscher.

„Sehr geehrte Fahrgäste“, grüßt MC Rheinbahn, und ausnahmsweise klingen seine Worte klar und deutlich und nicht wie das Gekrächze eines Neunziger-Jahre-Einwahlmodems. „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass wir aufgrund einer Störung eine Umleitung …“

„Ah nee, schade“, meint die Frau.

„Hä, was denn?“, fragt ihre Freundin.

„Na, ich dachte, der Fahrer sagt was zu dem Mann hier …“

Sie drehen sich zu mir. Sie keifen im Chor: „Sie haben Ihre Maske nicht auf!“

„Wär mir gar nicht aufgefallen“, erwider ich charmant. (Und ignoriere, dass sie ungefragt mein Geschlecht annahmen!)

Scharfsinnig wiederholen die beiden Sherlock-Holminas das Ergebnis ihrer Sagrotan-stalinistischen Ermittlung.

„Mich interessiert Ihre Meinung nicht“, befinde ich lakonisch, denn ich weiß, dass ich nicht mit Bürgern diskutieren muss, die bei 37 Grad in einer nahezu leeren Bahn eine WHO-Burka tragen. Genauso gut könnte ich versuchen, einem Stück Kohlrabi Zaubertricks beizubringen. Freundlich rege ich an, dass man mein „Fehlverhalten“ ja dem Fahrer melden könne. „Sie sind unverantwortlich“, heißt es. Danach herrscht Stille. Jedenfalls bis ich am Abend abermals in den Genuss öffentlicher Verkehrsmittel komme: Ein handelsüblicher Senior alemán (Multifunktionsjacke by Jack Wolfskin) bietet an, die Notbremse zu ziehen, falls ich mich weiterhin weigerte, das epidemiologisch nutzlose Textil zur Markierung Untertäniger anzuziehen. „Gut, tun Sie das mal“, zeige ich mich diplomatisch und auf die Unterschrift der Notbremse: „Missbrauch ist strafbar.“ Daraufhin stellt Opa sich zwei Minuten lang in die offene Tür, um die Weiterfahrt zu verhindern. Ob er sich da nicht eine Erkältung hole, frage ich. Der Fahrer kommt und bittet mich, die Bahn zu verlassen. Ich steige aus und wenige Sekunden später in die nächste ein. Thuglife. Unmaskiert, versteht sich.

Ja, wo sind sie hin, diese Dichter und Denker? Ich will sie nicht finden, wenn ich den Fernseher einschalte …

Hot town, summer in the city

Im öffentlich-knechtlichen RundFlunk meldet sich ein Arzt zu Wort. Ja, die Temperaturen diesen Sommer, das habe es ja noch nie gegeben. Das sei ziemlich gefährlich. Wichtig sei es, zu trinken. Und man müsse sich in der Mittagshitze auch nicht unbedingt stundenlang in die Sonne setzen oder schwere Sachen schleppen. Ich glaub, die Sendung hieß „Captain Obvious to the Rescue“ oder so ähnlich. Die Botschaft ist klar, jedenfalls wem die Synapsen nicht schon restlos durchgeschmort sind: Bleiben Sie zu Hause, bewegen Sie sich nicht, treffen Sie sich nicht mit anderen Menschen – sonst Tod! Es ist also die gleiche menschenverachtende, widernatürliche und postrational-totalitäre Agenda, die wir seit Ausrufung einer kollektivpsychotisch halluzinierten „Jahrhundert-Pandemie“ kennen, nur diesmal unter dem Banner der vermeintlich drohenden Klima-Apokalypse. Damit dies auch der letzte Zwangsgebührenzahler begreift, muss natürlich ein herzzerreißendes Testimonial her, ein Argumentum ad passiones, auch bekannt als emotionale Erpressung. Drum hat man irgendeine 80-jährige Oma vor die Kamera gezerrt, die wegen des Hitze-Infernos in der Notaufnahme gelandet sei: „Also dass ich ins Krankenhaus komm, weil ich zu wenig trinke, hätte ich mir auch nicht vorstellen können.“ Wie gesagt, „Das Land der Dichter und Denker“ eben.

Frühlingsaerosole – Springbreak in Sagrotanien

Dichter und Denker, wo seid ihr? In der Küche, dem natürlichen Habitat des deutschen Weibs, jedenfalls nicht …

„Habt ihr schon gehört“, fragte eine Freundin im März 2021. Wir saßen zu fünft auf wenigen Quadratmetern, maskenlos, plaudernd, trinkend. „In Düsseldorf gilt jetzt dieses Gesetz … Verweildauerverbot im Freien oder so was.“

„Ja … ja UND?! Das ist doch richtig!“, polterte eine Bekannte. „Kann doch nicht sein, dass alle rausgehen und die Inzidenz in die Höhe treiben!“

„Na, Moment! Du willst doch jetzt nicht Leuten zum Vorwurf machen, dass sie bei dem schönen Wetter keinen Bock haben, in der Bude zu hocken!“

„Doch! Wegen denen gibt’s demnächst wieder ’n Lockdown!“

Ich war der einzige Hodenbesackte in dieser Runde, umzingelt von Inhaber*innen einer Gebärelter. Und ich hätte es besser wissen müssen, als den patriarchalen Anachronismus eines logischen Arguments zu bemühen. Doch der Wahrheitsfuror des Konservativen ist nun mal intrinsisch – es zählt die Tat, weniger das Resultat. Drum mansplainte ich los: „Ähm, die Gefahr, sich draußen anzustecken, ist praktisch gleich Null.“

„Sagt WER?!“

„Ein Aerosol-Forscher, Gerhard Scheuch. Er wurde vom ‚FOCUS‘ interviewt.“

„Ja, DU … Du bist ein Corona-Leugner, ein Schwurbler!“

„Na, Moment, ich zitier hier aus einem Leitmedium. Das ist jetzt auch schon ‚Fake News‘, oder wie?“

Doch die Bekannte fühlte sich offenbar in ihr drittes oder viertes Lebensjahr zurückversetzt, sie hielt sich die Ohren zu und schüttelte wutschnaubend den Kopf.

„Aber das kann doch nicht sein, dass ich hier jetzt keine Fakten nennen …“

Sie stand auf, griff nach ihrer Tasche und lief raus, knallte die Wohnungstür zu. Wenig später schickte ich ihr eine WhatsApp mit der Frage, warum sie bei unserem Treffen in der beengten Küche denn weder eine Maske noch einen Astronautenanzug trug – wo sie die Aerosole doch selbst unter freiem Himmel fürchtete. Sie blockierte mich. Wie gesagt, „Das Land der Dichter und Denker“ eben.

Vaterland oder Tod?

Der Satiriker Karl Kraus schrieb: „Es reicht nicht, nur keine Gedanken zu haben. Man muss auch noch unfähig sein, sie zu formulieren.“

Doch will und kann der Deutsche sich darin nicht wiedererkennen, dünkt er sich doch dem unsterblichen Edelgeschlecht der „Dichter und Denker“ zugehörig. Eine eitle Selbstzuschreibung, gewiss. Und wohl auch jene Art letzter Strohhalm, nach welcher greifen muss, wer außer zwei verlorenen Weltkriegen und zwei Diktaturen nicht viel vorzuweisen hat, das für den Charakter seines Volks spräche. Hochmut kommt vor, aber auch nach dem Fall. Der Deutsche liebt die posthume Vereinnahmung: Die renitenten Geister, die er gemieden oder erbittert verfolgt hätte, wären sie ihm zu Lebzeiten begegnet, sind heute der ganze Stolz einer Nation, die sich für Bratwurst, Döner und Bordellbesuche ein so riskantes wie unnützes Gentherapeutikum in den Körper spritzen lässt.

Dass der moderne Hygienepatriot nicht müde wird, sich im Glanze ihrer humanitären, künstlerischen oder wissenschaftlichen Verdienste zu sonnen, ist dreierlei: Hybris, Heuchelei, wider seine Natur. Denn ob Scholl, Schopenhauer, Tucholsky oder Kafka … Sie alle waren, was er nie war: mutig, selbstbestimmt, nachdenkend. Der Deutsche aber verwechselt das Nachdenken traditionell mit Nachahmung dessen, was der Regel- und Verbotskatalog des präpotenten Schnüffelstaats als akzeptables Verhalten vorgibt, und er weiß es mit dem günstigsten aller „Argumente“ zu rechtfertigen: „Alle machen das so; das weiß man doch.“

Politik und Big Tech kolportieren den Mythos einer „globalisierten“, „digitalisierten“ und „stetig komplexer werdenden Welt“. Und weil dem jahrzehntelang durchinfantilisierten deutschen Gemüt das (wiederholt) Gesprochene bereits das Wahre ist, wähnt es sich unabwendbaren Naturgewalten gegenüber. Drum die liebste Zeit ihm jene ist, wo die Flucht ins elterliche Schlafzimmer ihn gegen die unwirtliche (Außen-)Welt abschirmte. Weil’s aber albern wäre, nächtens noch zu Mama und Papa ins Bett zu kriechen, muss der Staat als rettende Übermutter her. „Dichter und Denker“ an der Nabelschnur …

Was den teutonischen Genius angeht, geben sich rechtskonservative Akteure wie die AfD etwas bescheidener: Ihrer Erzählung nach habe sich die Ära der kognitiv kaum zu bändigenden Deutschen irgendwann in den Neunzigern dem Ende geneigt. Weswegen man eigentlich nur eine Zeitmaschine bräuchte, um den bajuwarischen Proto-Trump Franz Josef Strauß anstelle Kohls als Kanzler zu installieren, und schon würden wir: heute auf fliegenden Lastenrädern und in „sauberen“ SUVs durch nachhaltige Wohnsiedlungen sausen; Migranten zögen aus und nicht das Messer; Rentner suchten neue Kicks statt Pfandflaschen; das Weib wär allzeit bereit; und sämtliche Krebsarten geheilt (falls die Pharmaindustrie es denn wünschte).

Laut einem italienischen Kameraden sollte sich die Wahrheit nie in den Weg einer guten Story stellen. Aber die Wahrheit ist: Die Mehrheit der Deutschen konnte vor dem Dritten Reich nicht denken (sonst hätte es selbiges ja nicht gegeben). Und sie konnte es auch danach nie (sonst wären uns DDR und neuer Sagrotan-Stalinismus erspart geblieben). Dass die nützlichen System-Idioten, auch bekannt als „Liberalkonservative“, sich das Deutschland der Achtziger oder Neunziger Jahre zurückersehnen, ist bloß die romantische Verklärung einer Epoche, die es nie gab. Ein Phantom. Und selbst wenn es eine „Renaissance“ des Niegewesenen gäbe, etwa weil Tichy, Broder und Steinhöfel in ihrer Hose ein extragroßes Wurmloch entdeckten … Ja, selbst dann wäre es bloß Spiel auf Zeit, ehe die „demokratisch verfasste“ Republik erneut in die völlige Geistes- und Kulturinsolvenz abrutscht. Die relevante Frage ist ja nicht, wann oder mit welcher (austauschbaren) Regierung es so weit kommen konnte, sondern, warum. Und die Antwort lautet: Weil deutsch wir sind und waren, und dies zu allen Zeiten.

Für den Autor also Zeit, die Notbremse zu ziehen, so wie Opa Jack Wolfskin in der Rheinbahn. Ausstieg: rechts? Gern, aber bitte nicht am Luftschloss. Der deutsche Phantom-Patriotismus? Sollen doch Identitäre, das Ost-„Geflügel“ und sonstige Kollektivisten dem hinterherjagen, was so „existent“ ist wie die seit 2020 wütende Jahrhundert-Pandemie. „Vaterland oder Tod“? Dann lieber Netflix und Pizza.


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