Was bedeutet »soziale Gerechtigkeit«?

Ich habe einen heißen Tipp für Ihre nächste Feier: Bitten Sie Ihre Gäste, den Begriff „soziale Gerechtigkeit“ zu definieren. Vielleicht ist das Spiel nicht gerade so prickelnd wie Poker oder Mäxchen, aber – bei entsprechendem Humor – mindestens genauso witzig. In jedem Falle aber könnte es zu interessanten Gesprächen führen, besonders dann, wenn Ihre Gäste politisch links zu verorten sind. Da auf dieser Seite des Spektrums jeder permanent für „soziale Gerechtigkeit“ „kämpft“ und noch mehr darüber redet, sollte es ein Leichtes sein, treffsicher eine sattelfeste Definition zu geben, oder nicht?

Oder nicht!

Nehmen wir an, Sie bitten zehn Sozis, Ihnen zu erklären, was sie mit „sozialer Gerechtigkeit“ meinen, so werden Sie zehn verschiedene und in der Regel schlagwortartig und dabei immer irgendwie halbgar klingende Antworten erhalten, von „Einkommensgerechtigkeit“ über „Diskriminierung gegenüber X und Y“ (weiße Personen mit XY-Gonosomen ausgeschlossen), bis hin zu „Frauenrechten“, „Wohnrechten“, „Bildungsrechten“ oder „universalen Gesundheitsrechten“.

Soziale Gerechtigkeit“ bedeutet alles, was deren Moral-Champions wollen. Fast ausnahmslos behaupten Gewerkschaften, Universitäten und Schulen, private Stiftungen und öffentliche Wohltätigkeitsorganisationen, deren „Aufgabe“ sei, die Verbreitung „sozialer Gerechtigkeit“ flächendeckend wahrzunehmen. Ich präsentiere Ihnen das Leitbild des mitgliederstärksten Gewerkschaftsdachverbandes der USA sowie Kanadas (AFL-CIO), wobei es sich genauso gut um das Leitbild unzählig anderer solcher Organisationen handeln könnte:

„Die Mission des AFL-CIO ist es, das Leben von arbeitenden Familien zu verbessern – wirtschaftliche Gerechtigkeit am Arbeitsplatz zu bringen, und soziale Gerechtigkeit für unsere Nation.“ (“The mission of the AFL-CIO is to improve the lives of working families to bring economic justice to the workplace, and social justice to our nation.”)

Kurz gesagt, „soziale Gerechtigkeit“ ist ein Kodex für gute Dinge, über die niemand streiten muss –  und selbstverständlich wagt es niemand, gegen solch vermeintlich hehre Ziele zu sein. Das wiederum beunruhigte einst bereits den großen Ökonomen Friedrich August von Hayek. Sehr sogar. Sieben Jahre, nachdem er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, antwortete er im Jahre 1981 in einem Interview mit der Wirtschaftswoche auf die Nachfrage, ob er von „sozialer Gerechtigkeit“ denn nichts hielte:

„Nein, nicht das geringste. Was heißt denn hier Gerechtigkeit? Wer ist denn da gerecht oder ungerecht? Die Natur? Oder Gott? Jedenfalls nicht die Menschen, da die Verteilung, die aus dem Marktprozess hervorgeht, nicht das beabsichtigte Ergebnis menschlichen Handelns ist. Daher ist der Begriff soziale Gerechtigkeit in einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit freier Berufswahl völlig sinnlos. ‚Soziale Gerechtigkeit‘ kann es nur in Befehlswirtschaften geben, wo der Staat über die relativen Einkommen der einzelnen Bürger bestimmt.“

Und außerdem:

„Ich bin der festen Überzeugung, der größte Dienst, den ich meinen Mitmenschen erweisen kann, besteht darin, Schriftsteller, Journalisten und Redner dazu zu bringen, sich zu schämen, diesen Begriff jemals wieder zu verwenden. Diese unglückselige Idee so genannter ‚sozialer Gerechtigkeit‘ behauptet, dass die Entlohnung des einzelnen nicht davon abhängen soll, was er tatsächlich zum Sozialprodukt beiträgt, sondern davon, was er verdient.“

Warum war Hayek so verärgert über einen so positiven und sicherlich einwand-freien Begriff? Weil Hayek, wie er es oft tat, den Kern der Sache genau sah. Und was er sah, machte ihm Angst. Hayek verstand, dass unter dem politischen Opportunismus und der intellektuellen Faulheit des Begriffs „soziale Gerechtigkeit“ eine verderbliche philosophische Behauptung stand, nämlich dass die individuelle Freiheit (Selbstbestimmung) geopfert werden müsse, um das Einkommen neu zu verteilen. Letztendlich geht es bei „sozialer Gerechtigkeit“ darum, dass der Staat immer mehr Macht anhäuft, um „gute Dinge“ zu tun. Was sind gute Dinge? Nun, was auch immer die vermeintlichen Helden dieses letztlich aggressiven Kampfbegriffes von Woche zu Woche entscheiden mögen.

Aber zuerst, zuletzt und überhaupt immer besteht deren Antrieb in einer vom Staat diktierten, wirtschaftlichen Umverteilung. Zu verführerisch die Möglichkeit, in fremden Geldbörsen, die niemanden etwas angehen, herumzuwühlen. Nach der Doktrin der „sozialen Gerechtigkeit“ haben die Habenden immer zu viel, die Habenichtse hingegen nie genug.

Sollten Sie meinen Worten diesbezüglich misstrauisch gegenüberstehen, verweise ich gerne auf einen UN-Bericht (S. 6 f.), der den Terminus „soziale Gerechtigkeit“  wie folgt definiert:

„Soziale Gerechtigkeit kann im weitesten Sinne als gerechte und mitfühlende Verteilung der Früchte des Wirtschaftswachstums verstanden werden (…) Soziale Gerechtigkeit ist ohne eine starke und kohärente Umverteilungsstrategie, die von öffentlichen Behörden konzipiert und umgesetzt wird, nicht möglich.“

Ich wiederhole: „Starke und kohärente Umverteilungsmaßnahmen, die von öffentlichen Stellen konzipiert und umgesetzt werden.“ Und es wird noch schlimmer. Der UN-Bericht besteht darauf, dass „diejenigen, die heute an eine absolute Wahrheit glauben, welche sich wiederum durch Tugend und Gerechtigkeit identifiziert, weder willige noch wünschenswerte Gefährten für die Verteidiger der sozialen Gerechtigkeit [sind].“ (“Present-day believers in an absolute truth identified with virtue and justice are neither willing nor desirable companions for the defenders of social justice.”)

Im Klartext: Wenn Sie glauben, dass Wahrheit und Gerechtigkeit unabhängig von der Agenda der von links definierten Kräfte des Fortschritts existieren, sind Sie ein Feind der „sozialen Gerechtigkeit“.

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