von Roland Baader (minimal bearbeitet)
Immer wieder höre ich, die freie Marktwirtschaft (=„Kapitalismus“) sei eine Wirtschaftsordnung, aber doch keine Gesellschaftsordnung. Dieser Einwand verkennt, dass die Marktwirtschaft eine sozioökonomische Gesamtordnung sein muss, also eine Wirtschaftsordnung und eine Gesellschaftsordnung und eine Rechtsordnung. Und zwar, weil es bei der Marktwirtschaft um die Frage Freiwilligkeit oder Zwang bei allen (!) menschlichen Interaktionen geht. Die persönliche Freiheit (es gibt keine andere Freiheit!), die Grundlage der Marktwirtschaft ist, kann nicht überleben, wenn die drei Ordnungsgefüge Wirtschaft, Gesellschaft und Recht nicht deckungsgleich sind und in der Marktwirtschaft nicht ihren einheitlichen Ordnungsrahmen finden. Der gelegentlich zu hörende Begriff „wirtschaftsliberal“ ist eine Fehlinterpretation. Es gibt nur eine Freiheit – und die ist unteilbar; sonst ist es keine (persönliche) Freiheit. (Es gibt zwar Gebiete mit fast vollständiger Wirtschaftsfreiheit und zugleich autokratischen Regierungen wie z.B. Hongkong und Singapur, aber die Regierungen dieser Stadtstaaten zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Bürger ganz generell weitgehend in Ruhe lassen, nicht nur in wirtschaftlichen Belangen. Das sind aber politische Zufälligkeiten, die vom gnädigen Wohlwollen der jeweiligen Autokraten abhängen und sich jederzeit ändern können. Außerdem sind das äußere Gegebenheiten, die von den Überzeugungen der Bürger weitgehend unabhängig sind).
Ein einzelner Mensch kann – bei einer gewissen schizophrenen Veranlagung – in wirtschaftlichen Belangen liberal sein und in anderen Bereichen il-liberal. Doch ist das ein schwieriger Spagat, denn sogar bei den eigenen Handlungen und Entscheidungen ist es nahezu unmöglich, mit Gewissheit feststellen zu können, ob sie letztlich wirtschaftlicher Natur sind oder anderen Gründen und Motiven entstammen, oder ob sie – und in welchem Grad – ökonomischen oder außerökonomischen Zielen dienen. Völlig unmöglich aber ist es, diese Unterscheidung bei den Handlungen eines anderen Menschen treffen zu können. In einer für alle geltenden Ordnung darf sich erst recht niemand anmaßen, verbindlich festzulegen, welche Aktionen oder Ziele oder Mittel (zur Zielerreichung) wirtschaftlicher oder anderer – vielleicht rein emotionaler – Natur seien. Ein Befehlssystem, in welchem eine Regierung oder eine Behörde festlegen würde, was ein wirtschaftlicher Vorgang sei – und deshalb „liberal“ zu handhaben, und was eine nicht-wirtschaftliche Handlung sei – und deshalb Restriktionen unterliegen müsse, wäre zwangsläufig totalitär. Die Prinzipien Freiwilligkeit und Friedlichkeit (Gewaltlosigkeit) sind sowohl unverzichtbare Grundpfeiler der Marktwirtschaft als auch einer jeden freien Gesellschaft. Die Frage Freiwilligkeit oder Zwang muss für alle menschlichen Interaktionen und Kooperationen (!) zugunsten der Freiwilligkeit entschieden werden, wenn eine sozioökonomische Ordnung nicht zur Diktatur oder Tyrannei entarten soll. Deshalb impliziert Marktwirtschaft nicht nur eine freie Wirtschaftsordnung, sondern auch eine freie Gesellschaftsordnung. Beides bildet eine Einheit. Wenn diese Einheit gespalten wird, zerbricht die eine wie die andere ihrer Komponenten.
Die Frage „Wer hat den freien Markt erfunden, entworfen, konstruiert?“ ist völlig abwegig. Beim Sozialismus können wir die Personen, die ihn theoretisch ausgedacht haben, ziemlich eindeutig identifizieren. Abgesehen von einigen Philosophen der Antike und des Mittelalters waren das für die neuere Zeit zunächst die französischen Frühsozialisten – mit Namen wie Babeuf, Cabet, Saint-Simon, Proudhon, Fourier usw.; später Denker wie Marx, Engels, Lassalle, Lenin, Trotzki – bis hin zu Mao, Pol Pot, Kim Il Sung etc. Auch die „modernen“ Formen wie der sogenannte „demokratische Sozialismus“ oder der „weiche“ Sozialismus des Wohlfahrtsstaates hatten und haben ihre Vordenker und intellektuellen Konstrukteure.
Hinsichtlich der freien Marktwirtschaft ist die obige Frage, wie gesagt, unsinnig. Sie stellt sich nicht. Beim „Kapitalismus“ bzw. der freien Marktwirtschaft handelt es sich keinesfalls um etwas, das man sich ausdenken müsste – und deshalb gibt es auch niemanden, der das unternommen hätte. Es hat in den vergangenen Jahrhunderten Theologen und Moralphilosophen gegeben, die durch Nachdenken über die Vorgänge, die sich um sie herum abgespielt haben, sowie durch Beobachtung der bestehenden Realität entdeckt haben, dass es da etwas geben muss, das funktioniert, ohne dass irgendjemand es „eingerichtet“ hätte. Diese Denker sagten sich: Da tummeln sich Menschen, die arbeiten, etwas herstellen, das Hergestellte dann gegen andere Dinge tauschen, Dienste erbringen, sparen, verhandeln, Verträge schließen, Geld als Tauschmittel benutzen, essen, wohnen, Ideen haben, Werkzeuge benutzen, neue Wege beschreiten, einige Dinge besser machen, andere Versuche wieder aufgeben, voneinander lernen, zusammenarbeiten, Informationen austauschen und gelegentlich weite Reisen unternehmen, um Produkte und Erfahrungen heimzubringen, die man bisher nicht kannte. Jene Philosophen haben erkannt, dass sie die Lebensbedingungen auf wundersame Weise verbesserten, dass viele Leute wohlhabend wurden, andere nur weniger arm als vorher, dass alle Menschen ständig bestrebt waren, etwas herzustellen oder zu leisten, was andere haben wollten oder dringend brauchten, um es dann gegen Geld oder andere Waren und Dienste zu tauschen, die ihnen selber nützlich waren.
Das ist der tiefere Sinn des Bildes von der „unsichtbaren Hand“, über die Adam Smith nachgedacht hat, jener Denker, der die Funktionsmechanismen des Marktes und des arbeitsteiligen Gewerbefleißes und des Wettbewerbs als Erster bis in die feinsten Details systematisch durchdacht und niedergeschrieben hat. Die „unsichtbare Hand“ war für ihn kein Synonym für Gott oder für eine schicksalhafte Instanz, sondern der Inbegriff für die Vorgänge gesellschaftlicher Selbstregulierung. Sie ist die Metapher für ein Staunen vor der Tatsache, dass die ganz und gar verschiedenen und vielfach sogar miteinander in Konflikt stehenden Ziele der Menschen ständig irgendwie auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, dass die Leute auf Einrichtungen stoßen oder spontan und vielfach unbewusst Institutionen entwickeln (wie Märkte und Vertragsriten, Handelssitten und allgemein akzeptierte Tauschmittel), die viel zweckmäßiger sind als sie selber es sich hätten vorstellen oder bewusst hätten ausdenken können. Adam Smith und andere Denker entdeckten die Existenz des Marktes und der Marktwirtschaft als natürliche Ordnung. Der Markt musste nicht erfunden werden. Er entstand und entsteht überall spontan, wo man die Menschen nicht in ein Zwangs- und Befehlssystem presst, sondern sie frei entscheiden lässt, was sie tun oder lassen wollen. Der Markt – oder das große Gesamtgefüge aller Märkte und allen Marktgeschehens: Die Marktwirtschaft – ist die natürliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der arbeitsteiligen Kooperation aller menschlichen Wesen. Wer in diese gewaltfreie und auf Einvernehmen und freiwilligen Vertragsschlüssen beruhende Ordnung mit Herrschaftsbefehlen eingreift, stört und zerstört sie – und zwar auch dann, wenn es in der vermeintlich guten Absicht geschieht, die Abläufe zu „verbessern“, „gerechter“ zu gestalten oder bestimmten „höheren“ Zwecken dienlich zu machen.
Was in dieser natürlichen Ordnung verbesserungsfähig ist – und das ist vieles und wird eine niemals endende Aufgabe bleiben, das entdecken die Teilnehmer im Lauf der Zeit durch den permanenten Prozess von Versuch und Irrtum, von Erfolg und Misserfolg. Und zwar relativ rasch, denn der Markt belohnt die richtigen Einfälle zur Konsumentenbefriedigung innerhalb kurzer Zeit – und bestraft die falschen ebenso schnell (während falsche Entscheidungen in der Politik oft Generationen überdauern und mit „noch mehr Geld“ noch falscher gemacht werden können statt sie revidieren zu müssen). Jedenfalls kann niemals ein einzelner Herrscher oder ein politisches Gremium, weder eine Zentralplanbehörde noch eine Regierungsinstitution wissen, wie man diese ungeheuer komplexen und spontanen Regelmechanismen gestalten oder umgestalten müsste, um zu bewirken, dass sie dem Wohle aller tatsächlich besser dienen. Jeder solche Versuch zeugt entweder von Eitelkeit und grenzenloser Anmaßung oder von grandioser Dummheit oder von skrupellosem Machtwillen. Der Markt und die Marktwirtschaft: Das ist das Wissen, Können, Wollen, Streben und Nötighaben aller Menschen, das in millionenfach vernetzter Weise und über komplizierte und komplexe Mechanismen und Signale (Preise) in die Märkte einfließt. Deshalb ist der Markt immer um riesige Dimensionen klüger, kenntnisreicher und effizienter, als jeder einzelne Mensch oder jeder Herrscher und jede Regierung oder jede Behörde es jemals sein könnten.
Fragen wir uns doch einmal, woher all der Wohlstand kommt, der uns umgibt und den wir genießen.
1. Kommt er vom Staat? Keinesfalls, denn der hat, wie bereits ausgeführt, keine eigenen Mittel, die er verteilen könnte. Alles Geld, mit dem er die Leute angeblich reicher macht, muss er ihnen in Wirklichkeit vorher oder zugleich oder später wegnehmen, das heißt, dass er sie ärmer macht.
2. Kommt der Wohlstand vom Arbeitsfleiß der Bürger? Auch das kann nicht der entscheidende Faktor sein, denn Arbeit und Fleiß sind zwar unabdingbare Voraussetzung für den Wohlstand einer Nation, aber es gibt viele Länder und Regionen auf dem Globus, wo die Menschen schuften wie die Lastesel und doch auf keinen grünen Zweig kommen. Sie verrichten Tag und Nacht harte Arbeit – und bleiben doch bettelarm.
3. Der wirklich entscheidende Faktor zur Generierung von Wohlstand ist für jeden, der es sehen will, leicht zu erkennen. Man braucht nur die Jahrbücher „Economic Freedom in the world“ des Cato Instituts durchzublättern, um hundertfach belegt zu finden, dass die Freiheit des wirtschaftlichen Lebens (und das ist fast schon die „ganze“ Freiheit) in den einzelnen Ländern der Erde eindeutig mit dem Wohlstandsniveau dieser Länder korreliert – im Positiven wie im Negativen. Je freier eine Nation ist, desto reicher ist sie auch, und je unfreier, desto ärmer. Immer, überall, und ausnahmslos!
Marktwirtschaft oder „Kapitalismus“: Das ist jene natürliche Ordnung, in welcher sich freien Menschen auf freien Märkten die Möglichkeit eröffnet, ihre Arbeit durch Kapitalbildung ständig produktiver zu machen und somit Wohlstand und Fortschritt zu erzeugen. Weil man bei diesem Thema gerne missverstanden wird (!), sei hier ausdrücklich betont, dass es selbstverständlich nicht der Markt oder der „Kapitalismus“ als schiere Mechanismen sind, die von sich aus Wohlstand erzeugen. Es sind und bleiben wir, die Menschen als denkende, kreative, findige, einfallsreiche, wagemutige, ausdauernde, strebsame, fantasiebegabte und fleißige Wesen, die all das erzeugen und leisten, das wir Wohlstand nennen. Aber trotz all dieser Eigenschaften und Fähigkeiten bleiben unsere Bemühungen unzulänglich oder gar vergeblich, wenn sie nicht in die natürliche (marktwirtschaftliche bzw. „kapitalistische“) Ordnung gesellschaftlicher Kooperation eingebettet sind.
Es wäre schön, wenn die Menschen lernen würden: Marktwirtschaft, das sind wir selber. Der einzige, friedliche und hilfreiche Verbündete, den wir haben, ist der „Kapitalismus“. Nur in dieser natürlichen Ordnung herrschen wir selbst (als Konsumenten und Produzenten) über unser Leben – und nicht anmaßende Funktionäre und korrupte Machteliten.
Und Achtung! Das bedeutet nicht, dass die „kapitalistische“ Marktwirtschaft ein fehlerfreies Uhrwerk oder ein Idealzustand oder gar ein Paradies auf Erden wäre. Weil es sich um die natürliche Ordnung des menschlichen Zusammenwirkens handelt, ist sie mit denselben Fehlern und Mängeln behaftet wie die Menschen selber. Der Untertitel eines Buches von Erich Weede lautet: „Plädoyer für eine Wirtschaftsordnung für unvollkommene Menschen“. Aber genau deshalb funktioniert diese Ordnung in zufriedenstellender Weise mit jenem Wesen namens homo sapiens, das der Doyen der deutschen Nationalökonomie, Professor Herbert Giersch, den „zweitbesten Menschen“ genannt hat. Sie braucht nicht die utopische Lichtgestalt des „neuen Menschen“, wie ihn der Sozialismus seit fast einem Jahrhundert heranzüchten will – mit Knechtschaft und Folter, mit Massenmord und Versklavung, mit Lügenpropaganda und perverser Ideologie. Die Idee von einem „neuen Menschen“ ist die zynischste und überheblichste aller Verhöhnungen desselben und eher wird die Erde ein riesiges Leichenfeld sein, als dass auch nur ein einziger „neuer Mensch“ auf ihr wohnt. Wenn der Mensch in Würde und Freiheit und als zivilisiertes Wesen überleben will, muss er sich mit der unperfekten, aber natürlichen Ordnung der Marktwirtschaft abfinden und sich in ihr einrichten.
(Für Interessierte: Roland Baader – Das Kapital am Pranger. Ein Kompass durch den politischen Begriffsnebel)

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