von Roland Baader (minimal bearbeitet)
Staatsgläubigkeit und Staatsmystifizierung haben Tradition in Deutschland, nicht nur hegelianische. Doch obwohl den Deutschen in Ost und West im vergangenen Jahrhundert bittere Lektionen darüber erteilt wurden, was aus jeder Art von Etatismus erwachsen kann: Viel hat sich nicht geändert. Es scheint ohnehin eine erschreckend lange Zeit zu dauern, bis die Menschen merken, auf welche Weise und in welchem Ausmaß der jeweilige Leviathan sie entmündigt. In diesem Zusammenhang mag es nützlich sein, einen Satz des nordkoreanischen Wissenschaftlers Chang Hae-Song anzuführen. Chang Hae-Song, einer der wenigen Menschen, denen bislang die Flucht aus Nordkorea gelungen ist, hat an der Kim-IL-Sung-Abteilung der Kim-IL-Sung-Universität Kim-IL-Sung-Philosophie studiert. Nach seiner Flucht wusste er zu berichten, dass es im Lande des Kim-IL-Sung (bzw. nach dessen Tod im Jahr 1994 im Land des Kim-IL-Sung-Sohnes Kim-Chong-IL) nur einen einzigen Knopf an den Radios des Landes für einen einzigen Kim-Chong-IL-Sender gibt sowie nur ein einziges Traktormodell aus dem Jahr 1958 und nur ein einziges Automodell, ebenfalls aus den 50er Jahren. Dieser Chang also gab die Stimmung der Bevölkerung im Lande Kim-IL-Sungs und Kim-Chong-ILs, wo die Menschen 1996 im Staatsrundfunk sowie im einzigen staatlichen Programm des Fernsehens darüber informiert wurden, wie man Gras und Wurzeln als Nahrung zubereitet, mit folgenden Worten wieder: „Langsam merken viele, dass etwas nicht in Ordnung ist.“
Man ist geneigt, über diesen Satz in schallendes Gelächter auszubrechen. Ob das angebracht ist, steht auf einem anderen Blatt. Denn die Deutschen, die innerhalb erinnerbarer Zeit zwei Weltkriege, zwei Staatsbankrotte und zwei Währungsreformen zu erleiden hatten, die den Zusammenbruch des Sozialismus-Kommunismus auf eigenem Boden und auf der ganzen Erde miterleben konnten, die tausend Milliarden aufgewendet haben, um den sozialistischen Bankrott ihrer Landsleute halbwegs zu heilen, die inzwischen weit mehr als die Hälfte ihres Lebens für den Staat arbeiten, die seit Jahrzehnten ungezählte Vermögensmilliarden durch Inflation verlieren, die ein Sechs-Millionen-Heer von Arbeitslosen durchfüttern müssen, die jeden Pulsschlag ihres Alltags mit Quittungen und Steuerbelegen dokumentieren sollen und die über die elementarsten Zielvariablen ihrer Existenz – wie Art und Ort der Bildung ihrer Kinder oder Dauer und Preis ihrer Tages- und Lebensarbeitszeit, oder die Aufteilung des Vorsorge-Budgets ihres Einkommens nach persönlichen Risikokalkülen – nicht selber entscheiden dürfen: Diese Deutschen sind vom Bewusstseinsstand der Menschen in Nordkorea (die ja, wie berichtet, „etwas gemerkt“ haben) noch ein trauriges Stück entfernt, denn sie haben eben noch nicht gemerkt, dass „etwas nicht in Ordnung ist“. Sie halten den alles-regulierenden und alles-bestimmenden und allgegenwärtigen Vorsorge-, Fürsorge- und Versorgungs-Staat für unverzichtbar, ja für einen humanitären und zivilisatorischen Kulminationspunkt nicht nur der deutschen, sondern sogar der gesamten Menschheits-Geschichte. Wer daran zweifelt, ist ein „Kalter Krieger wider den sozialen Frieden“, ein „Ellenbogen-Kapitalist“ und ein „Werte-Nihilist“ ohne den „Mindestkonsens der Demokraten“, der hat ferner ein „falsches Menschenbild“ und ist dem „finsteren Manchestertum des 19. Jahrhunderts“ verhaftet. (Es wäre, nebenbei bemerkt, eine Lehrstunde wert, zu erörtern, was denn am Manchestertum und am Neunzehnten Jahrhundert im Vergleich zum seligen Zwanzigsten so „finster“ war – oder nur sichtverdunkelt.)
Kurz: Wir haben uns daran gewöhnt, in einer Art „ptolemäischem“ (sozial-)staatszentristischen Weltbild zu denken. Und in diesem falschen Weltbild führen Überlegungen auch dann in die Irre, wenn sie „in sich“ logisch, vernünftig und schlüssig sein sollten.
Das beginnt bereits mit der Trennung der „ptolemäischen Kreise“ namens „Wohlfahrtsstaat“ und „Sozialstaat“ (ein später noch ausführlich zu behandelndes Thema). Kritik am Wohlfahrtsstaat ist heute gang und gäbe, ja sogar der Spezies der „Politisch Korrekten“ erlaubt, denn er impliziert die Vorstellung von wuchernder Bürokratie, von ausufernder Staatsverschuldung, überstrapazierten Sozialnetzen, Missbrauch der Sozialhilfe und Verdrängung des Leistungswillens. Kritik am Sozialstaat jedoch oder gar dessen strikte Ablehnung, das ist nicht erlaubt, nicht politisch korrekt, ja sogar unmoralisch und Kennzeichen eines „eiskalten Ellenbogen-Kapitalismus“. Wer generell gegen den Sozialstaat argumentiert (und nicht nur gegen seine „wohlfahrtsstaatlichen“ Auswüchse), gilt als Charakterschwein und als kaltherzige moralische Niete. Er setzt sich sogar dem Vorwurf aus, ein Aufrührer gegen den Geist der Aufklärung und gegen die moderne, von den Zwängen eines verstaubten Paternalismus befreite Gesellschaft zu sein.
In Wirklichkeit handelt es sich beim Wohlfahrtsstaat und beim Sozialstaat um ein und dasselbe Phänomen. Man kann sich den beiden Begriffen zwar mit einer graduellen Messlatte nähern und den Wohlfahrtsstaat als unerwünschte Übertreibung eines ansonsten edlen und unentbehrlichen Sozialstaates sehen, aber das ist nur Begriffsakrobatik. Entscheidend ist, dass beiden Termini derselbe geistige Defekt zugrunde liegt, und zwar in der Theorie ebenso wie in der Praxis: Ist nämlich – hier beim Wohlfahrtsstaat wie dort beim Sozialstaat – das Band zwischen Leistung und Ertrag, zwischen Beitrag und Nutzen erst einmal prinzipiell zerrissen, dann kann der Kern aller Moral, die persönliche Verantwortung nämlich, nicht mehr stattfinden (und um Moral geht es ja angeblich beim Sozialstaat). Kollektive Verantwortung, holistische Verantwortlichkeit gibt es nicht und kann es nicht geben. Deshalb kann es auch niemals eine Kollektivmoral geben, und folglich ist auch die „Moral“ oder das Moralische des Sozialstaats dieselbe Schimäre wie die des Wohlfahrtsstaates. Alle anderen Parolen sind nur rhetorische Blüten aus der hochinnovativen Werkstatt politischer Falschmünzerei.
Dem trügerischen System „Sozialstaat“ entspricht die be-trügerische Münze mit dem Nominalwert „Verantwortung des Kollektivs oder für das Kollektiv“, besser bekannt als „Soziale Verantwortung“, passgenau. Was aber ist „Soziale Verantwortung“ – oder was soll das sein? Verantwortung für etwas, für sich selber oder für jemand anderen zu übernehmen, heißt immer, FREIWILLIG eine Verpflichtung zu übernehmen. Deshalb gehören Verantwortung und Freiheit oder Freiwilligkeit untrennbar zusammen. Man kann und man darf nicht jemanden für eine Handlung oder Unterlassung verantwortlich machen, die er unter Zwang oder bei Ausschluss seines freien Willens vorgenommen hat. Mit der Parole „Soziale Verantwortung“ wird den Bürgern oder bestimmten Bürgergruppen von der politischen Kaste eingeredet, sie hätten eine – meist in Geld oder Abgaben definierte – Verantwortung für andere Gruppen zu tragen. Was geschieht hierbei konkret? Einer Gruppe B (wie „Bezugsberechtigte“) wird gesagt, ihre Mitglieder seien für sich selber nicht verantwortlich; eine Gruppe A (wie „Abgabenverpflichtete“) wird alsdann gezwungen, für die Bedürfnisse der Gruppe B einzustehen. Und die parolenschwingenden Cliquen P (wie „Politiker“) und F (wie „Funktionäre“) heften sich diese „Verantwortung“ als moralisches Verdienst an den Hut, obwohl andere sie einlösen müssen.
Die „Soziale Verantwortung“ ist also – auch dann, wenn sie vom einzelnen Bürger ehrlich empfunden und als vernünftig erachtet wird – nur eine perverse begriffliche Spielart, bei welcher Verantwortung nicht übernommen, sondern abgeschoben wird. Es handelt sich hierbei nicht etwa um eine mysteriöse „höhere“ Verantwortung, sondern um Verantwortungslosigkeit als gesellschaftspolitisches Prinzip und als sozialpolitischen Imperativ. (Dass die Ausprägungen dieser Verantwortungslosigkeit mehrdimensional sind und auf welche Weise sie ihren Wirt, den Sozialstaat, in den finanziellen, moralischen und gesellschaftlichen Bankrott führen, ist bei Baader das Thema nachfolgender Kapitel.)
Generell gilt: Wer in ein falsches, unnatürliches, erzwungenes, krankes oder in ein abergläubisches und verlogenes System eingebunden ist und sich darin bewegen muss, der denkt auch falsch (falsch im Sinne von wissenschaftlichem Irrtum oder im Sinne von kontraproduktiv zu den eigentlich gesetzten Zielen oder eigentlich erstrebten Zwecken), und zwar sogar dann, wenn sein Denken „in sich“ logisch und schlüssig sein sollte. Bei einem solchen „System“ kann es sich um ein physikalisches Weltbild (wie z.B. das geozentrische des Ptolemäus) handeln oder um eine Gesellschaftsorganisation (wie z.B. die kommunistische), um eine Wirtschaftsordnung (wie die planwirtschaftlich-sozialistische, die aber ebenfalls besser „Organisation“ als „Ordnung“ genannt werden sollte), um eine Gemeinschaft (z.B. eine Sekte), ein menschliches Zwangsbiotop (wie das Gefängnis), eine oktroyierte Mitgliedschaft (wie die Gesetzliche Krankenversicherung), eine „wissenschaftliche“ Irrlehre (wie die nationalsozialistische Rassenlehre oder weite Teile des Freudianismus), eine Monopolsituation (wie die staatliche Eisenbahn), oder um eine politische Ideologie (wie den Nationalismus) – und um vieles mehr. Wichtig ist die Tatsache, dass sich der Mensch in das jeweils vorgefundene kleine oder große System mehr oder weniger widerwillig einfügt, sich in ihm „einrichtet“, seine Planungen an den Gegebenheiten ausrichtet und schließlich in den Kategorien dieser seiner Welt auch denkt, seien sie auch noch so verbogen oder verfälscht. Es muss dann schon viel Schlimmes oder Unbegreifliches geschehen, bis er – wie jener erwähnte Chang Hae Song – „etwas merkt“.
In der sozio-ökonomischen Sphäre ist jedes System falsch, bei dem die Verbindung zwischen Aufwand und Ertrag, zwischen Beitrag und Nutzen zerschnitten wird. Das gilt sogar für so enge und von Emotionen, von Liebe, Zuneigung, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft geprägte Institutionen wie Ehe, Familie und Freundschaft. Umso mehr in anonymen, rein rational bestimmten institutionellen System wie z.B. Versicherungen (auch Sozialversicherungen, wenngleich diese den Namen „Versicherung“ nur als Schwindeletikett tragen).
Innerhalb der falschen Systeme lässt es sich trefflich, ja sogar mit logisch schlüssigen Argumenten streiten. Und dennoch müssen sich auch die vernünftigen, rationalen und innerhalb des Systems „richtigen“ Sätze und Schlussfolgerungen als letztlich falsch erweisen, wenn man sie von außen oder von neutraler Warte aus betrachtet. Machen wir ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, eine Menschengruppe von hundert Personen wolle oder müsse einen Fluss auf dem direkten, schnellsten, bequemsten und ungefährlichsten Weg überqueren. An der betreffenden Stelle befinde sich eine Brücke, über welche die Gruppe im Fußmarsch ans andere Ufer gelangen könnte. Der Anführer der Menge beschließt jedoch, man werde den Fluss schwimmend überwinden, weil das Schwimmen eine schnellere Fortbewegungsart sei als das Gehen, weil es ferner bei heißem Wetter angenehmer sei und zudem weniger gefährlich, da ein Schwimmer weder stolpern und hinfallen noch von einem Auto überfahren werden könne. Weil all das unter bestimmten Umständen und ganz speziellen Bedingungen sowie in gewissen Einzelfällen richtig sein kann, stimmt die Gruppe dem Beschluss zu und begibt sich ins Wasser. Nach kurzer Zeit und nach wenigen Schwimmbewegungen stellt sich heraus, dass einige der Beteiligten nicht schwimmen können und ertrinken. Andere sind schlechte Schwimmer, kommen kaum voran und kehren nach wenigen Metern um. Die Übrigen werden von der Strömung weit abgetrieben, landen aber zum Glück auf einer Sandbank in der Flussmitte. Die nasse, frierende und erschöpfte Menge versammelt sich dort zur Beratung.
Es melden sich etliche „Experten“ zu Wort. Experte A führt aus, es sei zwar wesentlich anstrengender und dauere viel länger, nicht geradeaus zu schwimmen, sondern in einem bestimmten Winkel gegen die Strömung, aber diese Nachteile würden leicht wiegen gegen die Alternative, weit abgetrieben zu werden und dann am jenseitigen Ufer über Stunden zum Zielpunkt zurücklaufen zu müssen. Das ist zweifellos ein guter Rat. Experte B gibt zu bedenken, dass etliche Mitreisende ungeübte Schwimmer seien, denen man vorsichtshalber Schwimmwesten besorgen sollte. Auch das ist sicher richtig. Experte C macht darauf aufmerksam, dass das Wasser eisig kalt sei, was die Flussüberquerung gefährlich mache. Einige der Versammelten könnten sich nicht nur gesundheitliche Schäden zuziehen, sondern auch Wadenkrämpfe bekommen oder wegen erlahmender Kräfte ertrinken. Man möge also schützende Taucheranzüge beschaffen. Ebenfalls ein schlüssiger Einwand. Experte D bekräftigt diesen Vorschlag aus einem anderen Grund: Er habe gehört, dass der Fluss von ätzenden Chemikalien verseucht sei. Deshalb rate auch er zu den Taucheranzügen. Ein ebenfalls trefflicher Ratschlag also. Experte E schließlich macht darauf aufmerksam, dass die Gruppe nicht nur ihre Kleider und Schuhe am Ausgangsufer zurücklassen musste, wo sie gestohlen werden könnten, sondern dass es auch eine wenig erfreuliche Perspektive sei, am Ziel angelangt nass, frierend, ohne Reiseutensilien und Proviant sowie nur mit Taucheranzügen bekleidet weiterwandern zu müssen. Man solle deshalb gefälligst Schlauchboote herbeischaffen, mit denen man Leute und Gepäck sicher und trocken über das Wasser bringen könne. Auch das ein durchaus vernünftiger Vorschlag.
Akzeptiert man die Vorgabe des Gruppenleiters, den Fluss schwimmend (oder jedenfalls zu Wasser) zu überqueren, so sind die genannten „Experten“-Argumente allesamt schlüssig und rational, kurz: „Richtig“. Und doch ist jeder einzelne Ratschlag unsinnig und falsch. Vernünftig und richtig wären sie nur dann, wenn auch die vorangegangene Entscheidung, auf diese Weise ans andere Ufer zu gelangen, vernünftig im Sinne der vorgegebenen Problemlösung (schnelle, bequeme und ungefährliche Überquerung) gewesen wäre. Das war aber offensichtlich nicht der Fall. Der schnellste, bequemste und sicherste Weg über den Fluss wäre der Fußmarsch über die Brücke gewesen. Weil sich die „Experten“ mit ihren Detailanregungen aber implizit der unsinnigen Form der übergeordneten Problembewältigung angeschlossen haben, sind auch ihre „im falschen System“ durchaus logisch und rational erscheinenden Weisheiten letztlich irrational und „falsch“.
Als Ergänzung einige konkrete Beispiele aus der alltäglichen Realität des politischen Geschehens: Die Rationalisierung der Produktion, die Verbesserung der Produktivität eines Unternehmens oder einer Branche kann von allen Beteiligten und auch von der ökonomischen Wissenschaft nur als richtig, rational, „gut“ und nützlich beurteilt werden: Die Gewinne des Unternehmens und seiner Aktionäre steigen (oder die Verluste sinken), die Lohnerhöhungschancen der Beschäftigten steigen, die für die Konsumenten maßgeblichen Produktpreise sinken tendenziell und die Einnahmen des Finanzministers gehen in die Höhe, was wiederum die entlasteten Steuerzahler freut. Überall nur eitel Sonnenschein. Doch nun stelle man sich die Unternehmen oder die ganze Branche des deutschen Kohlebergbaus vor und nehme die bestehende Subventionsordnung als gegeben an: Weil wir uns nun in einem falschen (subventionierten) System befinden, bei dem die Verbindung zwischen Aufwand und Ertrag oder zwischen Kosten und Nutzen oder zwischen Leistung und Ergebnis beschädigt ist, verkehrt sich das eigentlich richtige, rationale, vernünftige und zweckmäßige Denken urplötzlich ins Gegenteil: Die Produktivität zu erhöhen, bedeutet nun noch mehr unbenötigte (weil zu teure) Produktionsüberschüsse, noch mehr Kohlehalden, noch größere betriebswirtschaftliche Verluste der Zechenunternehmen und noch höhere Subventionen – also auch wachsende Belastung der Staatskasse und der Steuerzahler. Logisches, schlüssiges, vernünftiges Denken und Handeln „im System“ (im falschen System) wird zum irrationalen, unvernünftigen und falschen Denken und Handeln, betrachtet aus der höheren Warte einer gesamtwirtschaftlichen Beobachtung des komplexen Geschehens.
Gleiches oder ganz Ähnliches gilt auch für weite Bereiche der Sozialversicherungen. So lässt sich z.B. bei der gesetzlichen Rentenversicherung eine Fülle von Argumenten für eine vernünftigere, zweckmäßigere, ja „im System“ sogar gerechtere (systemgerechtere oder moralisch und rechtssystematisch gerechtere) Gestaltung der staatlichen Altersvorsorge anführen, stichhaltige Begründungen für eine Teilbesteuerung der Rentenbezüge, für eine Befreiung der Rentenkassen von sogenannten versicherungsfremden Lasten, für ein höheres Renteneintrittsalter, für den Wegfall von Hinterbliebenenrenten für jüngere und gutverdienende Witwen, für eine Nichtanrechnung bestimmter Ausbildungszeiten, eine Trennung zwischen Invaliditäts- und Altersrente etc. etc. Und doch erweisen sich fast alle diese Darlegungen als falsch, widersinnig, irreführend oder gar als sinnlos und absurd, wenn man erst einmal begriffen und akzeptiert hat, dass es sich bei der Gesetzlichen Rentenversicherung um ein falsches System handelt – eben um eines, bei dem das elementare Band zwischen Beitrag und erzielbarem Ertrag zerschnitten ist, jenes Band also, das allen ökonomischen Institutionen inhärent ist, auch – jedenfalls weitgehend – der Risikosicherungs-Institution namens „Versicherung“. (Auch hierzu geht Baader an späterer Stelle noch intensiver ein)
Als weiteres Beispiel möge der in der politischen Diskussion oft zu hörende, allgemein akzeptierte und sogar von den meisten Ökonomen unterstützte Satz gelten, der Abstand zwischen Sozialhilfe und Arbeitsentgelt in den unteren Lohngruppen sei zu gering. „Im System“ gedacht ist diese These zutreffend, denn tatsächlich lohnt es sich für viele Sozialhilfeempfänger nicht mehr, eine Arbeit aufzunehmen – und für viele Beschäftigte nicht mehr, ihre Arbeit fortzusetzen. Das „Institut der deutschen Wirtschaft“ hatte einst errechnet, dass ein alleinstehender Sozialhilfeempfänger mit einem Kind unter sieben Jahren neunzig Prozent des verfügbaren Einkommens eines in der unteren Lohngruppe eingestuften Metallarbeiters in Hessen erhält, und ein sozialhilfeberechtigtes Ehepaar (mit zwei Kindern im Alter von 13 und 15 Jahren) mit DM 2.923 monatlich sogar 165 DM mehr als die vergleichbare Familie eines hessischen Arbeiters. Die Feststellung, der Abstand zwischen Sozialhilfe und Arbeitslohn sei zu gering, ist also unter allen erdenklichen Aspekten (Arbeitsanreiz, Verhinderung von Ausbeutung des Sozialsystems, Entlastung der Beitragszahler bei den Sozialversicherungen, Verringerung der Lohnnebenkosten, Entlastung der öffentlichen Haushalte, Bewahrung der Leistungsbereitschaft in der Bevölkerung, Gerechtigkeit etc. etc.) zutreffend und „richtig“. Und dennoch ist diese Feststellung oberflächlich und letztlich falsch. Denn sie verschleiert die Tatsache, dass der Abstand nicht nur deshalb zu gering sein kann – und es in aller Regel auch nicht deshalb ist –, weil die Sozialhilfesätze zu hoch wären oder die Arbeitsentgelte zu niedrig, sondern vor allem deshalb, weil vom normalen Arbeitslohn nach Abzug aller Steuern, Sozialabgaben (des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers) und Sozialkosten netto zu wenig übrigbleibt. Das hauptsächliche „Abstandsproblem“ liegt also – von der grundsätzlichen Problematik der Sozialhilfezahlungen einmal abgesehen – weder in überhöhten Zahlungen der Sozialkassen noch in zu niedrigen Eingangslöhnen, sondern in in zu niedrigen Nettolöhnen, und das heißt: In zu hohen Belastungen der Arbeitsentgelte mit Steuern, Abgaben, Sozialversicherungsbeiträgen und Lohnnebenkosten der verschiedensten Art. Und weil diese Belastungen nicht ohne Grund zu hoch sind, bedeutet das wiederum, dass die Abstandsproblematik letztlich auf falsche (ineffiziente, kontraproduktive, Fehlanreize setzende) Arbeitsmarkt-, Tarif-, Steuer– und Sozialsysteme zurückzuführen ist, die untereinander in verhängnisvoller Weise vernetzt sind.
Ein weiteres symptomatisches Merkmal für das scheinbar vernünftige Denken in falschen Systemen ist darin zu sehen, dass die politische und öffentliche Kritik an beliebigen Missständen fast immer bei spezifischen Personen oder Gruppen und bei konkreten Einzelfällen ansetzt. Da wird auf diesen oder jenen Politiker in dieser oder jener Partei hingewiesen, der in diesem oder jenem Fall diese oder jene Lösung anstrebt oder diese oder jene Entscheidung getroffen hat. Da gibt es das Beispiel der Frau X, die das Gesetz Y und das Programm Z in der einen oder anderen Weise ausnutzt, missbraucht, verletzt usw. Solange den bemäkelten Symptomen jedoch falsche Systeme zugrunde liegen, erweist sich solche Kritik bei näherer Betrachtung als leeres Gerede und geht an der eigentlichen Problematik vollständig vorbei.
Das Phänomen fehlkonstruierter Institutionen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interaktion (also das, was hier mit „falschen Systemen“ bezeichnet wird) weist aber beileibe nicht nur auf Schwächen des menschlichen Verstandes und auf die Begrenztheit unseres Wissens hin. Wesentlich kommt hinzu, was man in den Shakespeareschen Satz (Hamlet) fassen kann: „Ist dies schon Tollheit, so hat es doch Methode.“ Vorsichtiger formuliert: So hat es auch Methode. Denn genau besehen kann die partei- und interessenpolitische Funktionärskaste ihr Theaterstück mit dem Titel „Politik“ – und insbesondere das Großspektakel „Sozialstaat“ – nur dann aufführen, wenn sich das Denken der Menschen in solchen falschen Systemen bewegt und nur so lange als es sich dort bewegt. Nur hier hat Politik überhaupt eine Chance oder jedenfalls ihr größtes und bestes Spielfeld. Wo immer wir uns im „richtigen“ System befinden, nämlich im Markt, ist Politik (aus Baaders klassisch liberaler Denke heraus weitgehend) überflüssig. Politik: Das ist – ein wenig überspitzt formuliert – die Installation falscher Systeme und die strategische Nutzung der sich hieraus permanent ergebenden Irritationen sowie die taktische Beherrschung des hieraus resultierenden, endlosen Reparaturbetriebs. Deshalb birgt Politik auch immer und überall den Kern des Unmoralischen. Auf beiden Seiten ihres Aktionsfeldes: Auf der Seite der Lenkenden wie auf der Seite der Gelenkten oder Sich-lenken-Lassenden. Es gibt eine Moral der Realitätsakzeptanz und eine Unmoral der Realitätsverweigerung, eine Moral des Wirklichen und eine Unmoral der Illusion.
Das gilt ganz besonders da, wo hinter ersterer verantwortungsbewusste, persönliche Disziplin und hinter letzterer ein politisches, interessengeladenes Kalkül steckt.
(für Interessierte: Roland Baader – Fauler Zauber. Schein und Wirklichkeit des Sozialstaats)

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